AI-Cases bisher nicht “mindblowing”

Cannes Lions

Marielle Wilsdorf ist Partnerin und Kreativ-Geschäftsführerin bei Scholz & Friends in Hamburg. Bei den Cannes Lions war sie in diesem Jahr Mitglied der Shortlist-Jury in der Kategorie „Direct“, die „targeted and response-driven“ Kreativität auszeichnet. Vorher arbeitete sie unter anderem für GGH MullenLowe, DDB und Jung von Matt/Saga.

Eine Juryvorsitzende hat bei den Cannes Lions gesagt, dass in ihrer Jurygruppe mehr gelacht als geweint wurde. Sie bezog sich damit auf die Emotionalität der Kampagnen und Projekte. Wie hast du die Balance zwischen Leichtigkeit und Ernsthaftigkeit wahrgenommen?

Wilsdorf: Als wir aus der Coronazeit rauskamen, gab es die Prognose und den Wunsch, wieder mehr Leichtigkeit in die Werbung zu bekommen und mehr Humor unterzubringen. Deswegen finde ich es nicht überraschend, dass wieder mehr Humor auftaucht. Nur kann man nicht jedes Thema humorig erzählen. Viele Kampagnen haben gesellschaftsrelevante Themen wie den Gender-Bias, Diversity, Gleichberechtigung von Menschen mit Handicap, die Klimakrise oder Umwelt aufgegriffen. Kampagnen nicht nur von NGOs, sondern auch von Marken, die Haltung zeigen, was sehr wichtig ist. Es gab auch einige Cases, die auf Hilfe im Ukraine-Krieg aufmerksam gemacht haben – zum Beispiel Mastercard „Room for Everyone“.

Die Cannes Lions nehmen für sich in Anspruch, Trends zu setzen und in die Zukunft gerichtet zu sein. Welche Entwicklungen zeigen sich in Sachen Kreativität und Storytelling?

Wilsdorf: Das große Thema ist AI. Bei mir in der Direct Jury war AI in ungefähr jedem dritten Case ein Bestandteil. Die Entwicklung hat aber nicht einen solchen Sprung gemacht, wie es sich viele im vergangenen Jahr erhofft hatten.

Hast du das Gefühl, dass es einige Cases ohne AI gar nicht geben würde? Oder wären sie dann einfach nur anders gemacht worden?

Wilsdorf: Es macht viele Sachen einfacher, wenn man jetzt AI nutzen kann. Es ist schwer zu sagen, ob es etwas so nicht gegeben hätte, aber man fängt anders an zu denken, weil man weiß, dass man etwas schneller umsetzen kann. Es gibt zum Beispiel einen Case des Mobilfunkanbieters Orange. In dem Film wurden Fußballerinnen durch die Spieler der französischen Männernationalmannschaft ersetzt, so dass man dachte, die ursprünglichen Szenen wären von Männern. Sie sind aber von Frauen. Es schaffte große Aufmersamkeit für den Gender-Bias im Fussball und gewann letzendlich dafür einen Grand Prix. Das hätte man sicherlich auch händisch mit viel Aufwand umsetzen können, aber mit AI geht es natürlich viel schneller. Es sind auch einige Cases dabei, die AI nutzen, um auf andere Missstände hinzuweisen. Und in denen wiederum die AI gefüttert wird, um die Missstände aufzuklären.

In welchen Bereichen kommt AI zum Einsatz? Text, Grafik, Film – wo ist sie besonders stark vertreten?

Wilsdorf: Aktuell eher in der Bildgenerierung als im Film. Es gibt noch keine unseren Ansprüchen genügende Open-Source-Lösung, die man nutzen kann. Ich glaube, im nächsten Jahr werden wir noch mal ganz andere Cases sehen. Andere wird es vielleicht so nicht mehr geben. Manchmal wurde auch mit den Fehlern der AI gespielt – beispielsweise von KFC. Da waren sieben statt fünf Finger, was sie für ihren Finger-Licking-Good-Moment genutzt haben. Sowas ist im nächsten Jahr sicher ein alter Hut.

Erfüllt die Einbindung von AI nicht teilweise auch einen Selbstzweck? Man setzt sie ein und schreibt es dann prominent in die Case-Beschreibung, weil es innovativ klingt und man sich als Einreichender einen Vorteil erhofft.

Wilsdorf: Es gab in meinen Augen noch keinen AI-Case, bei dem ich sagen würde, das war jetzt super mindblowing. Wahrscheinlich haben viele versucht, AI einzubinden, um technisch gesehen Vorteile zu haben. Es sind aktuell noch viele Projekte, bei denen die AI Zeit und vielleicht auch Geld spart. Ein Beispiel ist der Jen-AI-Case mit Jennifer Lopez (Anmerkung: von Virgin Voyages). Da musste sie trotzdem sprechen und es mussten sicherlich auch die Rechte bezahlt werden. Aber sie musste eben nicht die ganze Zeit vor der Kamera stehen, sondern das meiste war generiert.

Marielle Wilsdorf © privat
Marielle Wilsdorf © privat

Was würdest du dir mehr wünschen? Was kommt in der Werbung zu kurz?

Wilsdorf: Was ich mir mehr wünschen würde, wäre eine popkulturelle Relevanz von Marken. Dafür braucht es mehr, als dass man einfach einen Popsänger oder Creator bucht. Es müsste stärker darum gehen, eine Marke in der Kultur zu verankern.

In welchen Fällen ist das gelungen?

Wilsdorf: Zum Beispiel bei Verizon mit Beyoncé (Anmerkung: „Can’t B Broken“). Ihr gesamtes Album Release und die Künstlerin wurden plötzlich mit Verizon verbunden. Von Heinz Ketchup gibt es einen Case. Die haben eine spezielle Ranch-Sauce gemixt, nachdem Taylor Swift etwas mit einer Sauce gegessen hat. Es ist beeindruckend zu sehen, wie schnell Marken international auf so etwas reagieren. Da sind wir in Deutschland oft zu langsam.

Die Kreativbranche diskutiert gerne über die Bedeutung der Cannes Lions – zu teuer, zu wenig Cases mit messbarem Impact. Wie wichtig sind sie für dich?

Wilsdorf: Für mich ist es international nach wie vor das wichtigste Festival. Es gibt nichts Vergleichbares. Insbesondere als Jury-Mitglied sieht man einfach, was gerade weltweit der Standard ist, und welche Cases ausgespielt werden in anderen Kulturräumen. Von denen würde ich in Deutschland sonst gar nichts mitbekommen. Es ist wie eine kompakte Education, weil man sich in kurzer Zeit sehr viel angucken muss. Wenn etwas aus ganz anderen Kulturen kommt, muss ich auch oft nachlesen, was der Hintergrund ist. Teil der Jury sein zu dürfen ist daher eine durch und durch bereichernde Experience.

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