PR oder Marketing – wer hat die Content Governance?

Content-Strategie

Ist der letzte Beitrag auf Ihrem Unternehmensblog bereits einige Wochen alt? Haben Sie eine Seite für Frequently Asked Questions? Und fragen Sie sich immer wieder, wer eigentlich Ihren Newsletter liest?
Ja? Dann mangelt es Ihnen an einer Content-Strategie. Was der E-Commerce-Experte Udo Butschinek in seinem Beitrag „7 untrügliche Zeichen, dass Ihnen eine Content Strategie fehlt“ dem Leser so hemdsärmelig vor Augen führt, ist jedoch bittere Realität in vielen Unternehmen. Gerade einmal 41 Prozent der deutschen Firmen haben eine digitale Strategie, zitiert die „Welt“ Anfang dieses Jahres aus einer Umfrage der Strategieberatung Accenture. Es muss sich dringend etwas ändern, findet auch PR-Beraterin Kerstin Hoffmann und nennt ihr aktuelles Buch kompromisslos „Web oder Stirb“. Unter diesem Titel bilanziert sie, dass sich vor allem der deutsche Mittelstand dem digitalen Wandel verweigere. Für viele Firmen sei das Projektmanagement per E-Mail bereits so etwas wie das technische High End.

Ganz von vorn beginnen

Start-ups haben es da deutlich leichter, sie müssen sich nicht mühevoll neu strukturieren, sondern können von Anfang an digital denken. Jacqueline Freundorfer beispielsweise, Global Content Manager & PR Germany bei Marley Spoon,  war vor einem Jahr die erste Mitarbeiterin des Start-ups für Abo-Boxen. Das Unternehmen, gegründet vom Lieferheld-CEO, verschickt Zutaten und Rezepte zum Nachkochen. Heute hat Marley Spoon bereits 70 Mitarbeiter – doch eine Kommunikationsabteilung im klassischen Sinn gibt es nicht. Insgesamt kommunizieren teamübergreifend 25 Mitarbeiter auf ihren Kanälen. Der Redaktions- und Kampagnenplan wird auf der Projektmanagementsoftware Trello koordiniert, Themen durch das Kollaborationstool Slack ausgetauscht.

Jeder Kanal steht für eine andere Art von Inhalt: Auf Facebook werden Tipps und Tricks zu Rezepten gepostet, auf Instagram wird der Alltag festgehalten – also alles, was im Büro passiert, bebildert. Der Blog verrät Usern Hintergrundgeschichten über die Lieferanten. Der Newsletter stellt aktuelle Kampagnen vor und verlinkt zum Blog. Offline werden Grußkarten und Tischgeschichten jeder Box beigelegt.

Außerdem gibt der CEO jeden Freitag einen aktuellen Stand durch, und das Finance-Team stellt bei Interesse jedem Mitarbeiter die Finanzstrategie der kommenden Jahre vor. „Jeder fühlt sich mehr verantwortlich, wenn er mehr weiß“, sagt Freundorfer dazu.

Und was macht der Mittelstand?

Für viele Mittelständler ist das leichter gesagt als getan. Content-Qualität im Web wurde bisher oft aus Kostengründen vernachlässigt, schreiben Klaus Eck und Doris Eichmeier in „Die Content-Revolution im Unternehmen“. Dabei revolutionierten Inhalte gerade die Unternehmenskommunikation und sollten einer einzigartigen Strategie entspringen. Einzigartig, weil jedes Unternehmen seine eigenen Prozesse und Strukturen entwickeln muss.

Einige wichtige Fragen sind dabei für jedes Unternehmen gleich, wenn der Content Audit, die Bestandsaufnahme aller Inhalte, aussagekräftige Ergebnisse liefern soll: Was macht meine Marke aus? Wer bin ich? Was kann mein Unternehmen an Kraft und Ressourcen bereitstellen? Was wünschen sich meine Stakeholder von mir?

Babylonisches Sprachgewirr

Die Verwirrung beginnt schon damit, dass die Begrifflichkeiten und Bedeutungen nicht klar sind. In den USA entstand die Diskussion um das Phänomen Content-Strategie unter den Webentwicklern. 2008 wandte sich die Internet-Expertin Kristina Halvorson in ihrem Artikel „The Discipline of Content Strategy“ an die Webentwicklerszene: Wir diskutieren über User Experience, Content-Management-Systeme, Informationsarchitekturen – aber was ist eigentlich mit den Inhalten?  Darüber müssten doch diejenigen, die das Web gestalten, vorrangig nachdenken. Die Gründerin der Agentur Brain Traffic war die erste, die das Thema auf diese Weise ansprach und systematisierte. Nicht mehr Design und Navigation einer Unternehmenswebseite waren fortan Triebfedern der Konzeption, sondern die Inhalte. 2010 fand dann in Paris die erste Content Strategy Forum Conference statt und widmete sich definitorischen Fragen.

In Stellung bringen sich hierzulande jedoch vor allem Dienstleister, die schon seit einigen Jahren ein Gespür für die Entwicklung haben. Das zeigen auch die Publikationen von Kerstin Hoffmann, Klaus Eck, Doris Eichmeier – und natürlich auch von Miriam Löffler, die mit „Think Content“ 2014 das erste deutschsprachige Fachbuch über Content-Strategie und Marketing auf den Markt brachte. Völlig zu Recht von Klaus Eck als „Berufsbibel“ gehandelt.

Nur Mut, liebe PRler!

Aufbau und Inhalt einer Content-Strategie seien dennoch bis heute nicht standardisiert, schreibt Annika Schach in „Advertorial, Blogbeitrag, Content-Strategie & Co.“. Und prognostiziert, die Content-Strategie sollte im besten Falle zu einem Katalysator für die operative Verwirklichung einer integrierten Unternehmenskommunikation werden. Das freut sicherlich die Kommunikatoren-Herzen und wirft die Frage auf: Welche Rolle spielen sie bei der Erstellung einer Content-Strategie?

Auffällig ist zuerst einmal, dass überall von Content Marketing die Rede ist. Ist es doch die Marketingabteilung, die den Content-Hut aufhat? „Es gibt keine abschließende Definition der Begriffe“, sagt Thomas Pleil, Professor für PR an der Hochschule Darmstadt und Mitorganisator des dortigen Content Strategy Camps, einem Barcamp für alle Interessierten. „Bei der Interpretation der Begriffe geht es sehr stark um Deutungshoheit. Content Marketing ist recht diffus. Das Verständnis von Content-Strategie ist hierzulande deutlich weiter entwickelt.“ Content Marketing sei taktisch angelegt, fokussiere sich auf potenzielle Kunden und umfasse nur ein Teilgebiet der Kommunikation. Die Content-Strategie hingegen sei die übergeordnete strategische Ausrichtung, die sich von der Kommunikationsstrategie ableitet, differenziert Thomas Pleil. Die Communities sind sich da natürlich nicht einig. Inbound-Marketer Robert Weller fragte kürzlich in einer Blogparade „Was ist Content Marketing?“ und erhielt 25 sehr unterschiedliche Antworten von PRlern, Marketern und Solopreneuren.

In Ihrem Blog-Beitrag „Wie wichtig ist Content-Strategie für das Content-Marketing?“ stärkt die Strategieberaterin Doris Eichmeier allen Kommunikatoren den Rücken, die sich gegen eine Verwerblichung ihrer Inhalte wehren: „Es ist schon fast zum Heulen: Seit jeher versuchen PR-Profis tumbe Vertriebsgier abzuwehren und ihre Kanäle davon freizuhalten. Und nun kommen, unter dem Deckmäntelchen des Content-Marketing, solche kruden Offerten daher, die mit guter PR nichts zu tun haben und falsche Erwartungen wecken.“ Der Streit zwischen den beiden Disziplinen müsse jedoch nicht sein, schreibt sie weiter. Er beruhe auf einem Missverständnis. Doch dazu später mehr.

Bye, bye Marketing?

„Die Marketingleute merken, dass sich ihr Umfeld verändert“, sagt Professor Pleil. „Sie leiden darunter, dass die Werbung nicht mehr funktioniert und versuchen ihren Erfolg sicherzustellen. Der Schlüssel? Content!“. Und was ist geschehen? 1999 prophezeiten die Internet-Denker Rick Levine, Christopher Locke, Doc Searls und David Weinberger das Ende der einseitigen Kommunikation zwischen Menschen und Märkten. Heute, 16 Jahre nach dem Cluetrain-Manifest, schauen die Verfasser schockiert auf das Social Web und sehen: Es ist alles kommerzialisiert. Im Januar verfassten sie daher die New Clues, die mahnen, dass sich das Online-Marketing frappierend von der Ursprungsidee eines offenen Webs, den miteinander sprechenden Märkten, entfernt habe.

Zeit also für die PR, Unternehmensinhalte wieder wertvoller, soziale Netzwerke wieder menschlicher zu machen? „Man sollte nicht zwischen Marketing und PR trennen“, ist Professor Pleils Meinung. „Beide Disziplinen sind für eine ideale Online-Kommunikation aufeinander angewiesen. Die PR-Verantwortlichen kämen nicht allein mit allen Ansprüchen einer Content-Strategie klar, sie bräuchten beispielsweise die Analyseverfahren der Marketer.“ Marketing und PR müssten also zusammenarbeiten.

Das ist auch Doris Eichmeiers Mission, wenn sie in Unternehmen kommt, die ihre Inhalte verbessern wollen. Meistens wird sie von der Marketingabteilung gerufen, und die PRler reagierten dann gerne etwas beleidigt. „Das mag daran liegen, dass das Wort Content Marketing den Anschein erweckt, als wäre es nur ein Thema der Marketing­abteilung“, sagt Eichmeier. „Dabei hat PR schon immer Content erstellt, Storytelling betrieben, Agenda Setting gemacht.“ Die PR bringe die nötigen Talente mit, kenne die Imageziele. „Marketing neigt zum Verkaufsdenken“, sagt Eichmeier. „Die PR hingegen kann in der Regel besser einschätzen, welche Themen langfristig zum Unternehmen passen.“ Dennoch verfüge das Marketing über die nötigen Kontaktpunkte für das Content Marketing, wie beispielsweise Online-Stores oder den Internetauftritt. Die PR-Verantwortlichen hätten hingegen Schwierigkeiten, sich einzugestehen, dass die Journalisten nicht mehr die wichtigsten Kontaktpunkte bereitstellten.

Ein gutes Angebot machen

Man darf nicht vergessen: Es ist nicht das Content-Marketing, das für alle Inhalte verantwortlich ist, sondern die Strategie. Diese sollte aus einem übergeordneten, interdisziplinären Team kommen, am ehesten natürlich gemeinsam mit der Unternehmensspitze. „Da bekommen viele große Augen, weil das am Ende bedeutet, dass sie viel Geld ausgeben müssen“, sagt Eichmeier. „Man braucht viel Geduld, die Entwicklung und Realisierung einer Strategie ist sehr anstrengend. Das Interesse daran ist inzwischen vorhanden, doch häufig fehlt noch die unternehmerische Entscheidung, diesen Weg auch einzuschlagen.“
Und dabei sollte die PR der Unternehmensspitze ein gutes Angebot machen, sagt Thomas Mickeleit, Director of Communications und Mitglied der Geschäftsleitung bei Microsoft Deutschland. Die PR hat zwar noch nicht die Mittel des Marketings, aber sie kann Vorschläge machen, sich als Experte positionieren. Dazu müsse sie sich mit den anderen Abteilungen vernetzen, ihnen das Leben leichter machen. „Die PR muss die Content-Governance-Rolle der gesamten Organisation übernehmen“, sagt Mickeleit. Dazu müsse sie beispielsweise durch eine Sentimentanalyse frühzeitig eruieren, was die Kunden wollen. „Wenn wir diese Insights dem Management nicht geben, tut es das Marketing“, warnt Mickeleit. „Doch das wesentliche Measurement der PR war bisher der Pressespiegel, der morgens aus dem Fax rumpelte“, sagt er mit einem Augenzwinkern. „Die große Innovation war dann, dass es den jetzt als Pdf gibt. Das ist Big Data“, fügt er trocken hinzu und markiert damit süffisant die Dringlichkeit eines neuen Selbstverständnisses der PR-Verantwortlichen.

Wie soll man den Chef überzeugen?

Um den Chef oder auch Kollegen von einer einheitlichen Content-Strategie zu überzeugen, braucht man neben der Analyse auch überzeugende Beispiele, wie imageschädigend lieblose Inhalte sein können. Peinlich ist beispielsweise, wenn ein Kunde – von einem exzellenten, teuren Werbespot inspiriert – das Produkt im Online-Store kaufen möchte und dort auf einen schnöden, holprigen Text stößt; oder nicht die Informationen bekommt, die er braucht. Der amerikanische Pool-Verkäufer Marcus Sheridan hat mit einem Blogpost nach eigenen Angaben insgesamt zwei Millionen Dollar verdient, weil er einfach die Preise der Pools auflistete – etwas, was sich seine Konkurrenten nicht getraut hatten.

Langfristig könne man durchaus viel Geld sparen, sagt Doris Eichmeier, wenn man Themen kontinuierlich mit einer cleveren Content-Strategie besetze. Kampagnen-Inhalte funktionieren meist wie ein Feuerwerk: Sie sehen toll aus, doch danach passiert nichts mehr. Ein durchdachter Inhaltsmix könne die Werbekampagne wertvoll unterstützen; Ikea, Schwarzkopf und Rügenwalder Mühle sind positive Beispiele dafür. Produkte, die in den Kampagnen beworben werden, werden auf der Webseite durch relevante Infos ergänzt.

Auch PR-Professor Thomas Pleil appelliert an den Kampfgeist der Kommunikationsverantwortlichen. „Bewährt sich die PR in der Content-Strategie, gibt es große Zukunftschancen, besonders im Hinblick auf Recruiting und Employer Branding“, sagt er. „Die PR muss kämpfen. Sie weiß, wie Beziehungsmanagement funktioniert und dass es nicht darum geht, wie man Content am besten verteilt, sondern dass man mit den Stakeholdern spricht.“ Jacqueline Freundorfer von Marley Spoon wundert sich auch immer wieder, dass viele Unternehmen Twitter zum Verteilen ihrer Inhalte nutzen, und dabei völlig vergessen, dass es eine Dialogplattform ist.
Und so neu ist das alles auch gar nicht, sagt Pleil. Er bedauert, dass bereits bestehendes Wissen, wie Issues- oder Stakeholder-Management, oft vernachlässigt werde. Erstaunlich sei auch, dass der wichtigste Content, die Basisinformation eines Unternehmens, häufig fehle. Gibt es einen Leitspruch, werde dieser häufig mit Floskeln beantwortet; ein Klick, und der interessierte User ist wieder weg.

Wo ist unsere digitale Heimat?

Hat man die Basisinformation jedoch elegant ausformuliert, wo soll sie eigentlich stehen? Natürlich auf allen relevanten Kanälen. Doch wo ist die digitale Heimat eines Unternehmens? Die Webseite? Die einen sagen, diese sei Content-Hub für alle Plattformen, die das Unternehmen bespielt. Die anderen finden, sie solle möglichst nahe am Unternehmen bleiben. Coca Cola macht gerade vor, wie eine Brand-Journalism-Webseite aussehen kann.
„Wenn ich Vorträge über die neuen Funktionen und Aufgaben der PR halte, schauen mich viele oft mit quadratischen Augen an“, sagt Thomas Mickeleit. „Wir brauchen ein neues Rollenverständnis. Viele merken nicht einmal, dass sie längst auf dem Abstellgleis stehen“, mahnt er.
Das wollen Sie doch nicht auf sich sitzen lassen, oder?

 

Sie haben bereits eine Content-Strategie und fragen sich, wie cleveres Storytelling funktioniert? Dazu mehr im zweiten Teil zum Thema Plot, Story, Storydoing und Empfehlungen für Storytelling-Fachliteratur im kommenen Magazin zum Thema „Humor“.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Strategie – wie man erfolgreich plant. Das Heft können Sie hier bestellen.

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