Mehr Distanz, bitte!

Journalismuskritik

Eigentlich wollte ich in dieser Ausgabe meiner Kolumne über Sinn und Zweck eines Volontariats schreiben. Denn hier gibt es offensichtlich viele Irrtümer, Missverständnisse und falsche Vorstellungen, wie ich immer wieder bei Vorträgen oder im Dialog mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern bei Seminaren und Zertifikatskursen feststelle. Meine Planung wurde aber über den Haufen geworfen durch die Entwicklung in der aktuellen und vor allem politischen Berichterstattung in einigen Medien. Denn auch dort gibt es viele Irrtümer, Missverständnisse und falsche Vorstellungen (um nicht zu sagen Falschdarstellungen) von dem, was Journalismus soll.

Konkret geht es um das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum neuen Wahlrecht. Das Gericht hat in seinem in der vergangenen Woche veröffentlichten Urteil geschrieben, dass der Gesetzgeber das Wahlrecht frei reformieren kann und dass dabei auch die Sperrklausel (hier: 5-Prozent-Klausel) modifiziert werden dürfe. Aus dem neu geregelten sogenannten Zweitstimmendeckungsverfahren ergebe sich „keine Ungleichbehandlung“. Entsprechend schrieb die Pressestelle des Bundesverfassungsgerichts als Überschrift über die Pressemitteilung: „Das Bundeswahlgesetz 2023 ist überwiegend verfassungsgemäß – allein die 5 %-Sperrklausel ist derzeit verfassungswidrig, gilt aber mit bestimmten Maßgaben fort.“

So gar nicht dazu passen will die Schlagzeile auf der Website der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, die „Wahlrechtsreform der Ampel teils verfassungswidrig“ lautete. Oder beim MDR, der schrieb: „Bundesverfassungsgericht hebt neues Wahlrecht teilweise auf“. Oder auch bei der „Tagesschau“, die titelte: „Bundesverfassungsgericht kippt das neue Wahlrecht in Teilen“. (Erst 15 Stunden später hieß es an selber Stelle – inklusive Rechtschreibfehler: „Bundesverfassungsgerichts: Wahlreform größtenteils verfassungskonform“). Bei ntv lautete die Schlagzeile sogar: „Schlappe für die Ampel: Karlsruhe erklärt neues Wahlrecht für teilweise verfassungswidrig“.

Fällt nur mir auf, dass da eine deutliche Diskrepanz besteht zwischen dem Urteil und der Pressemitteilung auf der einen Seite und der Berichterstattung auf der anderen?

Trennung von Bericht und Kommentar geht verloren

Journalisten sollen berichten, sie sollen Dinge transparent machen und – gerade auch in der juristischen Berichterstattung – Fachtermini und Spezialwissen übersetzen in die Sprache der Rezipienten. Journalisten sollen auch helfen, Sachverhalte einzuordnen und verständlich zu machen. Und ja: Sie dürfen und sollen auch kommentieren und auf diese Weise zur eigenen Meinungs- und Willensbildung beitragen. Bericht und Kommentar müssen aber sauber getrennt werden. Bei dem einen geht es um Vermittlung von Tatsachen, beim anderen um Meinungen.

Dafür sind eine saubere Recherche, Gründlichkeit vor Schnelligkeit und ein unparteiischer und distanzierter Ansatz erforderlich – Hanns Joachim Friedrichs würde sagen, sich mit keiner Sache gemein zu machen. Berichte haben objektiv zu sein, Kommentare subjektiv. Das ist eigentlich sehr einfach, und das wurde uns zumindest früher so beigebracht. Aber die Zahl der Journalisten, die zwischen objektiv und subjektiv zu unterscheiden vermögen, scheint immer weiter zu schrumpfen.

Ein Beispiel aus der lokalen Berichterstattung: In Bonn wird einem Unternehmer ein Preis verliehen. Er nutzt seine Dankesrede für einen Rundumschlag gegen die Lokalpolitik. In den letzten 13 Jahren sei viel zu wenig passiert in der Stadt, die dadurch für Betriebe und Arbeitnehmer zu wenig attraktiv werde. Diese erwähnten 13 Jahre sind nicht unwichtig, weil Bonn in dieser Zeit von Oberbürgermeistern jedweder Couleur und Stadträten mit unterschiedlichen Mehrheitsverhältnissen regiert wurde. Sie alle nimmt der Unternehmer mit zehn Thesen ins Gebet.

Der Autor der Lokalzeitung schreibt jedoch später in seinem Bericht, der mit dem Preis Geehrte habe sich in seiner Rede „an die amtierende Ratskoalition aus Grünen, SPD, Linken und Volt“ gerichtet. Er erwähnt auch nur einige wenige Thesen, die seine Aussage zu belegen scheinen, die übrigen lässt er in seinem Beitrag einfach weg. Das ist kein objektiv sauberer, seriöser Journalismus.

Das geht so weit, dass der Preisträger seine zehn Thesen auf Linkedin postet, „um die Deutungshoheit nicht der Presse zu überlassen, sondern um allen Interessierten die Möglichkeit zu geben, sich selbst ein Bild zu machen“. Hier betont er auch nochmals, dass sich seine Thesen „nicht gegen die amtierende Koalition, nicht gegen eine politische Couleur oder gar einzelne Personen“ richten. Auch hier also offenbar eine große Diskrepanz zwischen tatsächlichen Begebenheiten und Berichterstattung.

Verwirrung und Parteilichkeit durch Journalisten

Damit wir uns richtig verstehen: Mir geht es nicht um ein paar Einzelfälle tendenziöser, parteiischer oder voreingenommener Berichterstattung aufgrund persönlicher Animositäten (wer die nicht ausblenden kann, ist im Journalismus ohnehin falsch aufgehoben). Nein, mir geht es um einen allgemeinen Trend. Der betrifft natürlich nicht alle Kolleginnen und Kollegen! Dass zum Beispiel die „Bild“-Zeitung ohnehin nicht zum Angebot seriöser Berichterstattung gehört, sondern sich immer mehr zum Sprachrohr von Aufruhr und Verrohung macht (siehe zum Beispiel die Schlagzeilen und Falschmeldungen zum Heizungsgesetz), ist nicht neu.

Aber dass immer mehr (auch sogenannte Qualitäts-) Medien in diese Richtung schreiben und das Objektive und sauber Recherchierte gegen das unachtsam und voreilig Hingeschluderte eintauschen, ist nicht nur überraschend; es muss alle wachrütteln, die Presse und Pressearbeit ernst nehmen.

Wolf Schneider, langjähriger Leiter der Hamburger Journalistenschule, beklagte schon in den 1980er-Jahren eine oft unvorsichtige und tendenziöse Berichterstattung. „Gedankenlos“ werde die nächste Vokabel und damit oft Partei ergriffen. „Hier werden Verwirrung und Parteilichkeit durch die Journalisten hineingetragen“ in die Berichterstattung. Mehr Verwirrung zumindest, als die Sachverhalte an sich hergeben.

Weniger subjektive Begriffe in der objektiven Berichterstattung

Verwirrung: Damit sind wir wieder beim Urteil zum Wahlrecht. Offenbar waren Teile der Entscheidung schon vor Urteilsverkündung wegen eines Fehlers auf der Website des Bundesverfassungsgerichts sichtbar. Das ist natürlich eine ganz doofe Panne, die bei einer Institution mit dieser Bedeutung und einer Entscheidung mit dieser Tragweite einfach nicht passieren darf.

Dass als erste Reaktion darauf unreflektierte Berichte veröffentlicht werden, die das Urteil (zumindest aus meiner persönlichen, heißt subjektiven, Sicht) nicht in seiner Gänze wiedergeben, sondern in der Kernaussage fast pervertieren, ist aber ein Fauxpas auf Medienseite. Der darf auch nicht passieren. Ist aber leider nicht das erste Mal (siehe auch hier).

Dass die Parteien selbst und parteinahe Stiftungen das Urteil in ihren eigenen Publikationen gänzlich unterschiedlich wiedergeben, überrascht nicht. Da sind durchaus auch glatte Lügen dabei, aber es sind per se subjektive Seiten. Journalismus sollte hingegen wieder mehr Gesamtbild liefern und auf Vokabeln wie „scheitern“, „Schlappe“ oder „Klatsche“ in der objektiven Berichterstattung verzichten. Dann hätten wir weniger Parteilichkeit und weniger Verwirrung.

Die klare und informative Aussage muss im Journalismus wieder mehr Bedeutung erhalten.

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