„Wir sitzen nicht am See“

Politikjournalismus

Herr Deiß, die ARD-Sommerinterviews beginnen in diesem Jahr mit einem Gespräch mit Olaf Scholz. Warum muss es aus Ihrer Sicht Sommerinterviews geben?

Deiß: Die Zuschauer schätzen das Format sehr. Das sehen wir am wachsenden Interesse. Wir haben die Sommerinterviews seit 2021 modernisiert und sie wesentlich zuschauerfreundlicher und unterhaltsamer gemacht, indem wir Positionswechsel, Grafiken und Strukturelemente eingebaut haben. Die geben uns die Gelegenheit, hintergründiger zu werden und Dinge zu erklären.

Am wichtigsten ist für mich aber, dass die politischen Zeiten so ernst sind, dass wir gar keine politische Sommerpause mehr haben. Der Bundeskanzler hat nach dieser Europawahl jede Menge zu erklären und auch zu rechtfertigen, etwa warum er für die SPD bei diesem Ergebnis überhaupt wieder Kanzlerkandidat werden will. Wir haben zwei Parteien, die sich Chancen ausrechnen, den nächsten Bundeskanzler zu stellen, und die ihre Kandidatenfrage noch nicht geklärt haben: die Grünen mit Annalena Baerbock und Robert Habeck und die Union. Friedrich Merz sieht sich in einer guten Ausgangslage, aber da lauern noch andere. All das wird diesen Sommer geklärt werden. Und wir stehen vor den wichtigen Wahlen in Ostdeutschland und in den USA.

Inwieweit hat das Format journalistisch eine besondere Bedeutung und hebt sich von Interviews wie im „Bericht aus Berlin“ oder in den „Tagesthemen“ ab?

Hier stellen sich der Bundeskanzler, die Oppositionsführer und die Parteichefs 30 Minuten am Block kritischen Fragen. Das gibt es nicht mehr oft. In anderen Ländern findet das überhaupt nicht statt. Das ist ein Qualitätsmerkmal in Deutschland. Für mich sind die Interviews keine leichten Sommergespräche, sondern harte politische Talks in einer sommerlichen Kulisse in der ARD. Wir haben bei jedem Gespräch den Bundestag im Hintergrund. Damit ist immer klar: Es geht hier um Politik, um den parlamentarischen Betrieb und nicht um ein Sommerfeeling. Es gibt auch keine Absprachen mit den Politikern. Sie wissen, dass alles drankommen kann, was aktuell ist.

Anfang Juli kommt zu Ihnen der AfD-Bundessprecher Tino Chrupalla. Ann-Kathrin Müller vom „Spiegel“ sagte auf der Republica sinngemäß: Die AfD brauche die Glaubwürdigkeit etablierter Medien. Ein Sommerinterview sei per se freundlich angelegt. Man trifft sich an einem schönen Ort. Smalltalk. Hat sie da nicht einen Punkt?

Ich kann ja nicht für alle Formate sprechen, aber wir sitzen nicht am See. Wir sitzen vor dem Parlament. Unsere Regeln sind klar und auch nachvollziehbar: Seit 25 Jahren laden wir die Parteichefs der im Bundestag in Fraktionsstärke vertretenen Parteien ein. Das ist zutiefst öffentlich-rechtlich, weil wir auch den gesetzlichen Auftrag haben, zur Meinungsbildung beizutragen. Ich möchte es anderen überlassen zu bewerten, ob das bei uns harmlose Sommergespräche sind. Ich würde für mich sagen „nein“.

Frau Müller bezog sich konkret auf die Sommerinterviews mit der AfD.

Ich habe die letzten drei Sommerinterviews mit AfD-Vertretern geführt. Die sind sehr gut vorbereitet, weil sie wissen, sie werden 30 Minuten, ohne dass es danach Möglichkeiten gibt zu schneiden, zu allen heißen Themen befragt und gegrillt. Insofern ist das für sie kein gern gesehener Termin, sondern etwas, auf das sie sich genauso gut vorbereiten wie wir.

Man hatte lange das Gefühl, dass die politische TV-Berichterstattung in festgefahrenen Bahnen verharrte: mit den Talkshows, Hauptnachrichten, Interviewformaten und der Wahlberichterstattung. Jetzt hat sich doch einiges verändert: Die Talkshows versuchen, sich voneinander abzugrenzen. Was musste sich ändern und warum?

Wir brauchen Unterscheidbarkeit. Wir benötigen einzelne starke Marken. Diese müssen aber bereit sein, im Orchester zu spielen, um ein relevantes Gesamtprogramm im Ersten Deutschen Fernsehen zu ergeben. Der „Bericht aus Berlin“ ist eine etablierte Marke, aber sie ist in den vergangenen Jahren deshalb so reichweitenstark geworden, weil wir jetzt richtig im Orchester spielen. Wie das funktioniert? Ganz einfach: Weil wir uns im „Bericht aus Berlin“ mit den aktuellsten Themen und heißen Eisen befassen, laufen wir in Ausschnitten fast immer in der „Tagesschau“ um acht, die am Sonntag vor dem „Tatort“ traditionell die meistgesehene „Tagesschau“-Ausgabe der Woche ist. Weil wir dort laufen, kommen in den „Bericht aus Berlin“ nun immer hochkarätige politische Gäste. „Tagesschau“ und „Bericht aus Berlin“ profitieren davon gleichermaßen.

Die AfD kam in Interviews, vor allem aber in Talkformaten lange unterproportional zu ihrer Stärke im Bundestag zu Wort. Das scheint sich geändert zu haben. Können Sie das erklären?

Hier muss man die unterschiedlichen Sendungen betrachten. In der „Tagesschau“ ist die AfD in den Berichten über Parlamentsdebatten als in den Bundestag gewählte Fraktion mit dabei. Das entspricht unserem öffentlichen Auftrag. Bei Talkshows waren sie am Anfang oft dabei. Dann hat man gemerkt, dass dort teilweise von der AfD mit Absicht Fake News verbreitet wurden. Die sind in solchen Sendungen nicht immer widerlegbar. Deswegen hat es eine gegenläufige Bewegung gegeben. Im Moment hat man sich in meinen Augen ganz gut eingependelt.

Ich finde es richtig, dass die AfD immer wieder gestellt wird. Wenn wir sie nicht in diese Formate nehmen, ihnen keine hintergründigen Fragen stellen und Widersprüche aufzeigen, verbreiten sie ungefiltert ihre Inhalte in den sozialen Netzwerken. Aber Sie haben recht: Man muss das richtige Verhältnis wahren. Das gilt übrigens auch für Sahra Wagenknecht, die ein sehr gerne gesehener Talkshowgast ist. Bei uns im „Bericht aus Berlin“ war sie in diesem Jahr einmal.

Sie sagen es selbst: AfD-Politiker verbreiten Fake News. Wie gehen Sie in ein Gespräch mit jemandem, der nicht die Wahrheit sagt? Warum sind solche Politiker-Interviews sinnvoll und besitzen für die Zuschauer einen Informationswert?

Ich verstehe Ihren Punkt, aber ich sehe es anders. Wir hatten zum Beispiel Bernd Baumann (Anmerkung: Parlamentarischer Geschäftsführer der AfD-Bundestagsfraktion) dieses Jahr im „Bericht aus Berlin“ – nach den Recherchen zu Potsdam. Das musst du mit der Partei besprechen. Zusätzlich kam raus, dass Mitglieder der Jungen Alternative nach ihrem Parteitag in Bayern wie jetzt andere in Sylt in einer Diskothek grölten. Dann machen Sie ein Interview und sehen, dass Baumann überhaupt keine Probleme mit der Parole „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ hat. Das hat dann einen hohen Erkenntnisgewinn für den Zuschauer. Der ergibt sich auch schon mal daraus, wenn jemand keine Frage beantwortet oder, wenn man drei- oder viermal nachfragt, den gleichen Satz wiederholt.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Wir hatten nach der Chinareise des Bundeskanzlers, auf der es viel um Strafzölle gegen die deutsche Wirtschaft ging, Bundesverkehrsminister Volker Wissing im „Bericht aus Berlin“ zu Gast. Dem habe ich viermal dieselbe Frage gestellt: Würde die Bundesregierung zulassen, dass Mercedes-Benz chinesisch wird? Wissing hat viermal nicht geantwortet. Wo haben Sie sonst dazu Gelegenheit? Auf einer Pressekonferenz nicht. Das kann man nur in solchen Formaten.

Bei diesem Text handelt es sich um eine gekürzte Fassung. Das Interview in voller Länge lesen Sie in der aktuellen Ausgabe von KOM.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe #Politik. Das Heft können Sie hier bestellen.

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